
Diskussion um die Arbeitszeit: Weniger Stunden, weniger Leistung? – Die Deutschen sollen wieder mehr arbeiten
In Deutschland wird viel über Arbeitszeit gesprochen – und noch mehr diskutiert. Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) sowie zahlreiche Ökonomen und Politiker finden: Wir arbeiten zu wenig. Dabei gibt es zahlreiche Ideen, wie man das ändern könnte. Manche klingen durchdacht – andere eher nach einem Schnellschuss. Doch eine wirksame Lösung scheint erstaunlich einfach.
Im Jahr 2023 arbeiteten die Deutschen im Schnitt 1343 Stunden – rund 600 Stunden weniger als noch vor 55 Jahren. Im Vergleich mit den 34 OECD-Ländern landen wir damit auf dem letzten Platz. Was man als Zeichen von Wohlstand sehen könnte, sorgt vielerorts für Stirnrunzeln. Angesichts wirtschaftlicher Flaute, demografischem Wandel und einem spürbaren Mangel an Fachkräften lautet der Tenor: Wer noch arbeiten kann, sollte mehr arbeiten.
Clemens Fuest vom ifo-Institut bringt es auf den Punkt: „Über mehr Freizeit kann man nur bei steigendem Wohlstand reden.“ Und Friedrich Merz warnt: „Mit Work-Life-Balance können wir unseren Wohlstand nicht erhalten.“
Aber wie bringt man Menschen tatsächlich dazu, mehr zu arbeiten? Welche Vorschläge wurden gemacht – und was taugen sie?
Vorschlag 1: Einen Feiertag streichen
Diese Idee ist nicht neu. Schon in den 1990er-Jahren wurde der Buß- und Bettag gestrichen, um die Pflegeversicherung zu finanzieren. Auch der Tag der Deutschen Einheit sollte nach Wunsch des damaligen Kanzlers Gerhard Schröder auf einen Sonntag fallen. Kürzlich forderten der Verband der Bayerischen Wirtschaft und der Ökonom Michael Hüther erneut, einen Feiertag abzuschaffen.
Die Rechnung dahinter ist einfach: Wenn ein Feiertag entfällt, wird an diesem Tag gearbeitet – die Jahresarbeitszeit steigt, ebenso das Bruttoinlandsprodukt. Der Lohn bleibt gleich, das Unternehmen erhält mehr Leistung zum selben Preis.
Doch der Effekt wäre gering: Laut dem Institut der deutschen Wirtschaft (IW) brächte ein zusätzlicher Arbeitstag 8,6 Milliarden Euro mehr Wirtschaftsleistung – gerade einmal 0,2 Prozent. Die Statistik der OECD bliebe nahezu unverändert: Von 1343 auf 1350 Stunden – noch immer der letzte Platz.
Und: Mehr Feiertage bedeuten nicht automatisch weniger Leistung. Malaysia mit 18 Feiertagen liegt bei über 2200 Arbeitsstunden pro Erwerbstätigem – doppelt so viele Feiertage, aber weit mehr Stunden.
Vorschlag 2: Steuerfreie Überstunden
Ein Vorschlag aus dem Wahlkampf der CDU/CSU, unterstützt auch von der FDP. Die Idee: Wer mehr arbeitet, soll vom zusätzlichen Verdienst nicht auch noch Steuern zahlen müssen. Bislang sind nur Zuschläge für Nacht-, Sonn- und Feiertagsarbeit steuerlich begünstigt – und das begrenzt. Nun sollen alle Überstunden steuerfrei werden.
Klingt gut, hat aber Haken. Yasmin Fahimi vom Deutschen Gewerkschaftsbund nennt die Idee „verrückt“. 2023 wurden bereits 1,3 Milliarden Überstunden geleistet – die Hälfte davon unbezahlt. Katharina Barley (SPD) betont: „Überstunden sollen die Ausnahme sein – nicht die Regel. Menschen haben ein Recht auf Gesundheit und Freizeit.“
Und selbst mit einer Stunde mehr pro Woche würden wir in der OECD-Statistik nicht aufholen. Der Hebel bleibt schlicht zu klein.
Vorschlag 3: Das Recht auf Teilzeit abschaffen
Michael Kretschmer, Ministerpräsident von Sachsen, nannte das gesetzlich verankerte Teilzeitrecht im Gespräch mit dem Handelsblatt einen Fehler. Eine 40-Stunden-Woche sei nötig, um die Wirtschaftskrise zu meistern.
Doch das Recht auf Teilzeit, das seit 2001 besteht, soll Menschen die Möglichkeit geben, ihre Arbeit an ihr Leben anzupassen – nicht umgekehrt. 2019 kam die Brückenteilzeit hinzu, die zeitlich begrenzte Teilzeit erlaubt.
Tatsächlich arbeitet rund ein Fünftel der Erwerbstätigen in Deutschland in Teilzeit – hauptsächlich Frauen mit kleinen Kindern. Ohne ausreichende Betreuungsmöglichkeiten wäre eine Rückkehr in Vollzeit für viele gar nicht möglich. Ein Wegfall des Teilzeitrechts würde sie womöglich ganz aus dem Arbeitsleben drängen – mit gegenteiliger Wirkung: Die Arbeitsstunden pro Erwerbstätigem würden zwar steigen, doch die Gesamtarbeitszeit für die Wirtschaft würde sinken.
Vorschlag 4: Die Erwerbstätigkeit von Frauen erhöhen
Hier liegt wohl die größte Chance – und doch wird sie in der öffentlichen Debatte kaum beachtet. Expertinnen und Experten verschiedenster Lager – vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung über die Bertelsmann-Stiftung bis hin zu Sozialverbänden – plädieren seit Jahren für mehr berufliche Teilhabe von Frauen. Auch politische Stimmen wie Lisa Paus (Grüne) oder Karin Prien (CDU) unterstützen diese Forderung.
Derzeit arbeiten 76,8 Prozent der Frauen zwischen 20 und 64 Jahren. Ein guter Wert – doch 35 Prozent davon in Teilzeit. Bei Müttern mit Kindern unter 12 Jahren sind es sogar fast 70 Prozent. Laut Umfrage des Bundesfamilienministeriums würden viele gerne mehr arbeiten – wenn es denn möglich wäre.
Das Potenzial ist enorm: 840.000 Vollzeitstellen fehlen der Wirtschaft, weil viele Frauen nicht die nötige Betreuung und Flexibilität finden. Wären die Rahmenbedingungen besser, könnten sie aufstocken – ganz ohne Druck, sondern aus eigenem Wunsch.
Allein dadurch würde sich der OECD-Schnitt von 1343 auf 1362 Stunden erhöhen – ein großer Schritt, der sogar den Fachkräftemangel abmildern könnte.
Doch dafür braucht es nicht mehr Druck – sondern mehr Unterstützung: flächendeckende und kostenfreie Kita-Plätze, Ganztagsschulen und flexible Arbeitszeitmodelle. Erst dann kann echte Wahlfreiheit entstehen – und mit ihr ein wirtschaftlicher Schub, der auf Freiwilligkeit basiert.
Fazit: Die Kraft liegt in der Vereinbarkeit
Ob wir mehr arbeiten müssen, ist eine Frage, die viele Perspektiven zulässt. Doch der Blick auf die Realität zeigt: Die größten Chancen liegen nicht im Streichen von Feiertagen oder in steuerfreien Überstunden – sondern in einer Arbeitswelt, die Menschen unterstützt, nicht einschränkt. Eine Wirtschaft, die Frauen wirklich teilhaben lässt, ist keine Utopie. Sie ist ein erreichbares Ziel – mit Wärme, Weitblick und Wille.