
„Wir sind aus der Ukraine hierher gekommen“: Australien trauert um die 10-jährige Matilda, das jüngste Opfer der Bondi-Schießerei
Bondi ist sonst ein Ort, an dem Menschen atmen. Meerluft, Sonnenuntergänge, Familien mit Picknickdecken, Jugendliche mit Boards unterm Arm – ein Strand, der für viele wie ein Versprechen wirkt: Hier ist das Leben leichter. Genau deshalb trifft das, was dort am Sonntagabend passiert ist, Australien so hart. Die Schießerei am Bondi Beach hat 15 Menschen das Leben gekostet, Dutzende verletzt – und sie hat dem Land das Gefühl genommen, dass solche Gewalt „woanders“ passiert.
In den Tagen danach wurde Bondi nicht einfach still. Es wurde schwer. Die Stille, die sich über den Vorplatz des Bondi Pavilion legte, war – wie der Guardian es beschreibt – nicht die Ruhe des Friedens, sondern diese bleierne, drückende Stille, die auf etwas folgt, das sich nicht rückgängig machen lässt. Menschen standen Schulter an Schulter, manche starrten ins Leere, andere weinten offen. Und immer wieder fiel derselbe Name: Matilda. Zehn Jahre alt. Das jüngste Opfer.
Ein Kind wird zum Mittelpunkt der Trauer
Bei der Gedenkveranstaltung am Bondi Pavilion sammelte sich die Trauer vieler Menschen in einem Punkt – an einem Kind. Das wirkt ungerecht und logisch zugleich. Ungerecht, weil kein Leben „mehr wert“ ist als ein anderes. Logisch, weil die Vorstellung, dass ein Kind in einem Moment, der eigentlich von Gemeinschaft und Feier getragen war, sterben musste, die Köpfe sprengt.
Fotos von Matilda standen zwischen Blumen, Kerzen und kleinen Spielsachen. Im Laufe des Abends kamen immer mehr Menschen. Der Guardian schreibt von mehr als 1.000, später eher 2.000. Ein Ort, der sonst für Ausblicke bekannt ist, wurde zu einem Ort des Innehaltens. Das Meer war da, die Dämmerung war da – und eine wachsende Menge, die nicht wusste, wohin mit dem Gefühl.
„Wir sind aus der Ukraine hierher gekommen …“
Matildas Eltern, Valentyna und Michael (die Nachnamen wurden laut Bericht auf Wunsch der Familie nicht genannt), traten vor die Menge. Sie sind aus der Ukraine nach Australien eingewandert – lange bevor Russland das Land angegriffen hat. Sie kamen, um sich ein Leben aufzubauen, um Sicherheit zu finden. Und ausgerechnet hier, in Australien, mussten sie etwas erleben, das für sie wie ein Bruch mit der Idee von Zuflucht wirkt.
Der Moment, in dem Matildas Vater zu sprechen begann, steht wie ein Schnitt in der Erinnerung vieler Anwesender. Er sagte, er habe eigentlich gar nicht reden wollen, aber plötzlich stand er am Mikrofon. Seine Stimme rang mit dem, was ihn überwältigte. Dann sprach er einen Satz, der die Menge sofort packte – weil er so viel erklärt, ohne es erklären zu wollen:
„Wir sind aus der Ukraine hierher gekommen … und ich habe sie Matilda genannt, weil sie unser erstes Kind war, das in Australien geboren wurde. Und ich dachte, Matilda sei der australischste Name, den es geben kann.“
„Ich kann mir nicht vorstellen, was für ein Monster …“
Matildas Mutter Valentyna konnte nur kurz sprechen. Ihre Worte waren nicht „politisch“, nicht „analytisch“, nicht „abgerundet“. Es waren Worte, die aus einem Körper kommen, der etwas gesehen oder durchlebt hat, das sich nicht mehr aus dem Inneren löschen lässt. Sie sagte den Satz, den du unbedingt drin haben wolltest – und der im Deutschen genauso schneidend klingt:
„Ich kann mir nicht vorstellen, was für ein Monster auf dieser Brücke steht, ein kleines Mädchen sieht, das zu ihrem Vater läuft, um sich bei ihm zu verstecken, und … und er zieht einfach ab.“
Sie machte klar: Für sie ist das kein abstrakter Begriff wie „Tragödie“. Es ist ein Bild, das sich festsetzt. Sie fügte hinzu, es sei kein Unfall gewesen, nicht „eine verirrte Kugel“ aus der Ferne, sondern etwas, das sich „hier“ festsetzt – und dabei drückte sie laut Bericht die Handfläche hart an ihr Herz: „Das bleibt hier … es bleibt hier und hier.“ Dann konnte sie nicht mehr weiterreden.
Bondi als Ort der Gemeinschaft – und warum der Angriff das Land erschüttert
Der Guardian beschreibt die Trauerfeier auch als Moment, in dem eine ganze Community sichtbar wurde: jüdische Familien, Nachbarn, Menschen aus anderen Religionen, Menschen ohne religiöse Bindung, Tourist*innen, die geblieben sind, weil sie das Gefühl hatten, „man kann jetzt nicht einfach weiterlaufen“. Diese Mischung verstärkte das Gefühl: Das ist nicht nur ein Angriff auf Einzelne, es ist ein Angriff auf das, was Australien gerne über sich glaubt – ein Land, in dem man sich am Strand versammeln kann, ohne Angst.
Gerade weil Bondi so offen ist, wirkt es wie eine Bühne. Und gerade weil so viele Menschen Bondi kennen – persönlich oder aus Bildern – wird das Ereignis zu etwas, das nicht „weit weg“ ist. Viele empfanden es als Angriff auf eine Art Alltag: auf den Gedanken, dass öffentliche Orte grundsätzlich sicher sind.
Wer die Opfer waren – und warum die Namen so wichtig wurden
Bei der Veranstaltung wurden Namen verlesen. Der Guardian nennt mehrere der identifizierten Opfer und beschreibt dabei, wie das Nennen selbst zu einem Ritual wurde: Jeder Name ein eigener Schlag, ein eigener Moment. Unter den Verstorbenen waren demnach auch bekannte Persönlichkeiten aus der jüdischen Gemeinschaft, Menschen, die in der Gemeindearbeit aktiv waren, und Personen, die offenbar versucht hatten, andere zu schützen.
Es war auffällig, wie stark die Frage nach Identität und Erinnerung in den Vordergrund trat: Wer waren diese Menschen? Wofür standen sie? Was bleibt, wenn sie nicht mehr da sind? Matilda, als Kind, wurde dabei zum Symbol des „unwiederbringlichen“ Verlusts – aber die Zeremonie machte auch klar: Das Leid ist nicht nur „größer“ wegen Matildas Alter, sondern weil so viele Lebenslinien gleichzeitig abgeschnitten wurden.
Die Tat und die Ermittlungen: Was bisher bekannt ist
Du wolltest, dass auch die Details über die Täter aus dem zweiten Guardian-Text einfließen. Wichtig ist dabei: Es handelt sich um laufende Ermittlungen und um Vorwürfe bzw. Anklagen, nicht um rechtskräftige Urteile. Nach den Informationen aus dem Guardian-Liveblog sollen zwei Männer – Naveed Akram und sein Vater Sajid Akram – die mutmaßlichen Täter sein. Der Guardian schreibt, dass Naveed Akram inzwischen wegen 59 Delikten angeklagt wurde.
Laut Guardian bleibt Naveed Akram im Krankenhaus unter Polizeibewachung und sollte bzw. soll per Videolink vor Gericht erscheinen. Sein Vater Sajid Akram sei am Tatort von der Polizei erschossen worden (auch das steht so im Liveblog). Der Guardian erwähnt außerdem, dass die Polizei „frühe Hinweise“ sehe, dass es sich um einen terroristischen Angriff handeln könnte, der vom sogenannten „Islamischen Staat“ inspiriert gewesen sei – das ist eine besonders sensible Aussage, die als Ermittler-Einschätzung/„early indications“ im Text dargestellt wird, nicht als endgültige Feststellung.
Diese Details sind der nüchterne Teil der Geschichte – aber sie erklären, warum Australien nicht nur trauert, sondern auch politisch und gesellschaftlich unter Strom steht: Terror-Verdacht, Fragen nach Prävention, nach Radikalisierung, nach Waffenrecht, nach Polizeipräsenz und nach gesellschaftlichem Zusammenhalt.
„Erinnert euch an ihren Namen“ – warum Matilda für viele zur Chiffre wurde
Der Satz des Vaters, „remember her name“, wirkt, als wäre er aus einem Film – ist aber in Wahrheit etwas viel Härteres: der Versuch, einem unfassbaren Verlust eine Handlung entgegenzusetzen. Wenn man nichts reparieren kann, kann man wenigstens erinnern. Wenn man nichts zurückholen kann, kann man wenigstens verhindern, dass ein Kind zur Statistik wird.
Matilda hatte – so wird es im Guardian beschrieben – jedes Jahr an dieser Chanukka-Veranstaltung teilgenommen, seit sie geboren wurde. Es war Routine, Tradition, Familienzeit. Genau das macht die Tragödie noch unbegreiflicher: Es war kein „Risiko-Ort“, keine Situation, in der man „hätte damit rechnen müssen“. Es war ein öffentlicher, vertrauter Rahmen, ein Fest, das Licht und Gemeinschaft symbolisiert.
Was die Eltern über den Ablauf erzählen – ohne Sensationssprache
Im Guardian-Liveblog schildern Matildas Eltern später auch, wie sie die ersten Geräusche hörten. Zunächst dachten sie, es könnten Feuerwerkskörper oder ein Scherz sein. Dann rief der Vater, es sei ein Schütze. Beide Eltern rannten los, in unterschiedliche Richtungen, auf der Suche nach ihren Kindern. Matilda und ihre Schwester waren demnach kurz zuvor zu einem Bereich gegangen, wo es einen kleinen Streichelzoo gab.
Der Vater beschreibt, dass er Matilda fand, versuchte ihr zu helfen, sie zu beruhigen, und dass die Schüsse lange anhielten und es sich wie eine Ewigkeit anfühlte, bis Hilfe kam. Er berichtet auch, dass Fremde – darunter medizinisches Personal – halfen, als die Schüsse aufhörten. Während Matilda in einem Krankenwagen abtransportiert wurde, blieb die Familie in Unsicherheit, voneinander getrennt, und gleichzeitig voller Angst um beide Kinder.
Diese Schilderungen sind so intensiv, dass man fast spürt, wie ein einziges Detail für immer im Kopf kleben bleibt: Nicht „die Schlagzeile“, sondern der Moment, in dem ein Elternteil nicht weiß, ob das zweite Kind irgendwo sicher ist.
Die emotionale Wucht: Warum gerade Matildas Geschichte so viele trifft
Viele Menschen, die nicht persönlich betroffen sind, reagieren bei solchen Ereignissen mit einer Art innerem Widerstand: Man will nicht hinsehen, weil es zu viel ist. Und doch zwingt Matildas Geschichte viele zum Hinsehen, weil sie so einfach ist – und genau deshalb so brutal: Ein Kind. Ein Name. Eine Familie, die einen „australischen“ Namen gewählt hat, um auszudrücken: Wir sind angekommen.
Australien trauert hier nicht nur um Matilda, sondern auch um die Idee, dass „Ankommen“ automatisch Sicherheit bedeutet. Wenn Valentyna sagt, sie könne nicht begreifen, was für ein Monster so etwas tut, dann ist das nicht nur eine persönliche Klage. Es ist die Frage, die sich viele stellen: Wie kann ein Mensch so weit gehen – und was hat unsere Gesellschaft übersehen, dass so ein Hass in einem öffentlichen Raum explodieren kann?
Ein Abschied, der kein Ende kennt
Am Bondi Pavilion gingen die Menschen an diesem Abend nicht „nach Hause“ und ließen alles zurück. Viele kamen wieder. Der Ort füllte sich am nächsten Tag erneut. Blumen wurden mehr, Kerzen brannten weiter, Fotos blieben stehen. Für Außenstehende ist ein Memorial ein Ort der Trauer. Für Betroffene ist es oft ein Ort, an dem man überhaupt erst begreift, dass etwas real ist.
Und über allem steht Matildas Name – nicht, weil die anderen weniger zählen, sondern weil ihr Name in diesem Moment die „Unschuld“ verkörpert, die Australien verloren hat.
Matildas Vater bat: „Remember her name.“ In der deutschen Übersetzung bleibt es genauso klar: Erinnert euch an ihren Namen. Nicht als Schlagzeile. Nicht als Trend. Sondern als Erinnerung an ein Kind, das in einem Land, das Schutz bedeuten sollte, sein Leben verlor – und an eine Gemeinschaft, die danach versucht, Licht gegen Dunkelheit zu setzen.
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